Zehnter Brief

[596] Sie sind also mit mir darin einig und durch den Inhalt meiner vorigen Briefe überzeugt, daß sich der Mensch auf zwei entgegengesetzten Wegen von seiner Bestimmung entfernen könne, daß unser Zeitalter wirklich auf beiden Abwegen wandle und hier der Rohigkeit, dort der Erschlaffung und Verkehrtheit zum Raub geworden sei. Von dieser doppelten Verwirrung soll es durch die Schönheit zurückgeführt werden. Wie kann aber die schöne Kultur beiden entgegengesetzten Gebrechen zugleich begegnen und zwei widersprechende Eigenschaften in sich vereinigen? Kann sie in dem Wilden die Natur in Fesseln legen und in dem Barbaren dieselbe in Freiheit setzen? Kann sie zugleich anspannen und auflösen – und wenn sie nicht wirklich beides leistet, wie kann ein so großer Effekt, als die Ausbildung der Menschheit ist, vernünftigerweise von ihr erwartet werden?

Zwar hat man schon zum Überdruß die Behauptung hören müssen, daß das entwickelte Gefühl für Schönheit die Sitten verfeinere, so daß es hiezu keines neuen Beweises mehr zu bedürfen scheint. Man stützt sich auf die alltägliche Erfahrung, welche fast durchgängig mit[596] einem gebildeten Geschmacke Klarheit des Verstandes, Regsamkeit des Gefühls, Liberalität und selbst Würde des Betragens, mit einem ungebildeten gewöhnlich das Gegenteil verbunden zeigt. Man beruft sich, zuversichtlich genug, auf das Beispiel der gesittetsten aller Nationen des Altertums, bei welcher das Schönheitsgefühl zugleich seine höchste Entwicklung erreichte, und auf das entgegengesetzte Beispiel jener teils wilden, teils barbarischen Völker, die ihre Unempfindlichkeit für das Schöne mit einem rohen oder doch austeren Charakter büßen. Nichtsdestoweniger fällt es zuweilen denkenden Köpfen ein, entweder das Faktum zu leugnen, oder doch die Rechtmäßigkeit der daraus gezogenen Schlüsse zu bezweifeln. Sie denken nicht ganz so schlimm von jener Wildheit, die man den ungebildeten Völkern zum Vorwurf macht, und nicht ganz so vorteilhaft von dieser Verfeinerung, die man an den gebildeten preist. Schon im Altertum gab es Männer, welche die schöne Kultur für nichts weniger als eine Wohltat hielten und deswegen sehr geneigt waren, den Künsten der Einbildungskraft den Eintritt in ihre Republik zu verwehren.

Nicht von denjenigen rede ich, die bloß darum die Grazien schmähn, weil sie nie ihre Gunst erfuhren. Sie, die keinen andern Maßstab des Wertes kennen als die Mühe der Erwerbung und den handgreiflichen Ertrag – wie sollten sie fähig sein, die stille Arbeit des Geschmacks an dem äußern und innern Menschen zu würdigen, und über den zufälligen Nachteilen der schönen Kultur nicht ihre wesentlichen Vorteile aus den Augen setzen? Der Mensch ohne Form verachtet alle Anmut im Vortrage als Bestechung, alle Feinheit im Umgang als Verstellung, alle Delikatesse und Großheit im Betragen als Überspannung und Affektation. Er kann es dem Günstling der Grazien nicht vergeben, daß er als Gesellschafter alle Zirkel aufheitert, als Geschäftsmann alle Köpfe nach seinen Absichten lenkt, als Schriftsteller seinem ganzen Jahrhundert vielleicht seinen Geist aufdrückt, während daß er, das Schlachtopfer des Fleißes, mit all seinem Wissen keine Aufmerksamkeit erzwingen, keinen Stein von der Stelle rücken kann. Da er jenem das genialische Geheimnis, angenehm zu sein, niemals abzulernen vermag, so bleibt ihm nichts anders übrig, als die Verkehrtheit der menschlichen Natur zu bejammern, die mehr dem Schein als dem Wesen huldigt.[597]

Aber es gibt achtungswürdige Stimmen, die sich gegen die Wirkungen der Schönheit erklären und aus der Erfahrung mit furchtbaren Gründen dagegen gerüstet sind. »Es ist nicht zu leugnen«, sagen sie, »die Reize des Schönen können in guten Händen zu löblichen Zwecken wirken, aber es widerspricht ihrem Wesen nicht, in schlimmen Händen gerade das Gegenteil zu tun und ihre seelenfesselnde Kraft für Irrtum und Unrecht zu verwenden. Eben deswegen, weil der Geschmack nur auf die Form und nie auf den In halt achtet, so gibt er dem Gemüt zuletzt die gefährliche Richtung, alle Realität überhaupt zu vernachlässigen und einer reizenden Einkleidung Wahrheit und Sittlichkeit aufzuopfern. Aller Sachunterschied der Dinge verliert sich, und es ist bloß die Erscheinung, die ihren Wert bestimmt. Wie viele Menschen von Fähigkeit«, fahren sie fort, »werden nicht durch die verführerische Macht des Schönen von einer ernsten und anstrengenden Wirksamkeit abgezogen, oder wenigstens verleitet, sie oberflächlich zu behandeln! Wie mancher schwache Verstand wird bloß deswegen mit der bürgerlichen Einrichtung uneins, weil es der Phantasie der Poeten beliebte, eine Welt aufzustellen, worin alles ganz anders erfolgt, wo keine Konvenienz die Meinungen bindet, keine Kunst die Natur unterdrückt. Welche gefährliche Dialektik haben die Leidenschaften nicht erlernt, seitdem sie in den Gemälden der Dichter mit den glänzendsten Farben prangen und im Kampf mit Gesetzen und Pflichten gewöhnlich das Feld behalten? Was hat wohl die Gesellschaft dabei gewonnen, daß jetzt die Schönheit dem Umgang Gesetze gibt, den sonst die Wahrheit regierte, und daß der äußere Eindruck die Achtung entscheidet, die nur an das Verdienst gefesselt sein sollte. Es ist wahr, man sieht jetzt alle Tugenden blühen, die einen gefälligen Effekt in der Erscheinung machen und einen Wert in der Gesellschaft verleihen, dafür aber auch alle Ausschweifungen herrschen und alle Laster im Schwange gehn, die sich mit einer schönen Hülle vertragen.« In der Tat muß es Nachdenken erregen, daß man beinahe in jeder Epoche der Geschichte, wo die Künste blühen und der Geschmack regiert, die Menschheit gesunken findet und auch nicht ein einziges Beispiel aufweisen kann, daß ein hoher Grad und eine große Allgemeinheit ästhetischer Kultur bei einem Volke mit politischer Freiheit und bürgerlicher Tugend, daß[598] schöne Sitten mit guten Sitten, und Politur des Betragens mit Wahrheit desselben Hand in Hand gegangen wäre.

Solange Athen und Sparta ihre Unabhängigkeit behaupteten und Achtung für die Gesetze ihrer Verfassung zur Grundlage diente, war der Geschmack noch unreif, die Kunst noch in ihrer Kindheit, und es fehlte noch viel, daß die Schönheit die Gemüter beherrschte. Zwar hatte die Dichtkunst schon einen erhabenen Flug getan, aber nur mit den Schwingen des Genies, von dem wir wissen, daß es am nächsten an die Wildheit grenzt und ein Licht ist, das gern aus der Finsternis schimmert; welches also vielmehr gegen den Geschmack seines Zeitalters als für denselben zeugt. Als unter dem Perikles und Alexander das goldne Alter der Künste herbeikam und die Herrschaft des Geschmacks sich allgemeiner verbreitete, findet man Griechenlands Kraft und Freiheit nicht mehr, die Beredsamkeit verfälschte die Wahrheit, die Weisheit beleidigte in dem Mund eines Sokrates, und die Tugend in dem Leben eines Phocion. Die Römer, wissen wir, mußten erst in den bürgerlichen Kriegen ihre Kraft erschöpfen und, durch morgenländische Üppigkeit entmannt, unter das Joch eines glücklichen Dynasten sich beugen, ehe wir die griechische Kunst über die Rigidität ihres Charakters triumphieren sehen. Auch den Arabern ging die Morgenröte der Kultur nicht eher auf, als bis die Energie ihres kriegerischen Geistes unter dem Szepter der Abbassiden erschlafft war. In dem neuern Italien zeigte sich die schöne Kunst nicht eher, als nachdem der herrliche Bund der Lombarden zerrissen war, Florenz sich den Mediceern unterworfen und der Geist der Unabhängigkeit in allen jenen mutvollen Städten einer unrühmlichen Ergebung Platz gemacht hatte. Es ist beinahe überflüssig, noch an das Beispiel der neuern Nationen zu erinnern, deren Verfeinerung in demselben Verhältnisse zunahm, als ihre Selbständigkeit endigte. Wohin wir immer in der vergangenen Welt unsre Augen richten, da finden wir, daß Geschmack und Freiheit einander fliehen und daß die Schönheit nur auf den Untergang heroischer Tugenden ihre Herrschaft gründet.

Und doch ist gerade diese Energie des Charakters, mit welcher die ästhetische Kultur gewöhnlich erkauft wird, die wirksamste Feder alles Großen und Trefflichen im Menschen, deren Mangel kein anderer,[599] wenn auch noch so großer Vorzug ersetzen kann. Hält man sich also einzig nur an das, was die bisherigen Erfahrungen über den Einfluß der Schönheit lehren, so kann man in der Tat nicht sehr aufgemuntert sein, Gefühle auszubilden, die der wahren Kultur des Menschen so gefährlich sind; und lieber wird man, auf die Gefahr der Rohigkeit und Härte, die schmelzende Kraft der Schönheit entbehren, als sich bei allen Vorteilen der Verfeinerung ihren erschlaffenden Wirkungen überliefert sehen. Aber vielleicht ist die Erfahrung der Richterstuhl nicht, vor welchem sich eine Frage wie diese ausmachen läßt, und ehe man ihrem Zeugnis Gewicht einräumte, müßte erst außer Zweifel gesetzt sein, daß es dieselbe Schönheit ist, von der wir reden und gegen welche jene Beispiele zeugen. Dies scheint aber einen Begriff der Schönheit vorauszusetzen, der eine andere Quelle hat als die Erfahrung, weil durch denselben erkannt werden soll, ob das, was in der Erfahrung schön heißt, mit Recht diesen Namen führe.

Dieser reine Vernunftbegriff der Schönheit, wenn ein solcher sich aufzeigen ließe, müßte also – weil er aus keinem wirklichen Falle geschöpft werden kann, vielmehr unser Urteil über jeden wirklichen Fall erst berichtigt und leitet – auf dem Wege der Abstraktion gesucht und schon aus der Möglichkeit der sinnlich- vernünftigen Natur gefolgert werden können: mit einem Wort: die Schönheit müßte sich als eine notwendige Bedingung der Menschheit aufzeigen lassen. Zu dem reinen Begriff der Menschheit müssen wir uns also nunmehr erheben, und da uns die Erfahrung nur einzelne Zustände einzelner Menschen, aber niemals die Menschheit zeigt, so müssen wir aus diesen ihren individuellen und wandelbaren Erscheinungsarten das Absolute und Bleibende zu entdecken und durch Wegwerfung aller zufälligen Schranken uns der notwendigen Bedingungen ihres Daseins zu bemächtigen suchen. Zwar wird uns dieser transzendentale Weg eine Zeitlang aus dem traulichen Kreis der Erscheinungen und aus der lebendigen Gegenwart der Dinge entfernen und auf dem nackten Gefild abgezogener Begriffe verweilen, aber wir streben ja nach einem festen Grund der Erkenntnis, den nichts mehr erschüttern soll, und wer sich über die Wirklichkeit nicht hinauswagt, der wird nie die Wahrheit erobern.[600]

Quelle:
Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, Band 5, München: Hanser 31962, S. 596-601.
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